11.08.2022
Die Kinder anderer Leute
Die Kinder anderer Leute
Urlaub, was für eine schöne Zeit. Es geht gar nicht so sehr darum, nicht zu arbeiten. Ich arbeite gern, wirklich. Es macht mir Freude zu sehen, was ich schaffen kann, mich mit Kolleg:innen auszutauschen, selbst gesteckte Ziele zu erreichen.
Nein, im Urlaub geht es um etwas Anderes. Es geht darum, den Blick für eine Weile aus dem Alltag zu lösen. Das ist selbst dann eine tolle Erfahrung, wenn man seinen Alltag gernhat, mit allen und allem, was dazu gehört.
Unser erster Urlaubstag in diesem Jahr nun fand in Kroatien statt. Am Abend saßen wir nach einer langen Fahrt ziemlich geschafft auf der Terrasse, wollten die Seele baumeln lassen und zu uns kommen.
Und dann das: Zwischen den Tischen rannten jede Menge Kinder herum. Die Zöpfe der kleinen Mädchen flogen durch die Luft, die langen Haare der Jungs klebten in ihren Gesichtern, ihre Schreie, ihr Necken, kamen aus dem tiefsten Inneren und wurde von keiner Sorge der Welt gedimmt. Braungebrannte und nicht ganz saubere Füßchen steckten in staubigen Sandalen, die beim Rennen auf der gefliesten Terrasse ordentlich Krach machten.
Mitten im Weg lag ein riesiger, zotteliger Hund. Er hatte die Augen geschlossen. Gelegentlich gähnte er und öffnete ein Auge bis zur Hälfte, vermutlich, um das Chaos um sich herum gut einordnen zu können. Ein wohl zweijähriges Kind stolperte, fiel auf den Hund, der sich nun doch erschrak. Ein Gast vom Tisch, der dem unfreiwilligen Duo am nächsten war, sprang auf, hob das Kind auf, klopfte ihm die Knie sauber und streichelte den Hund. Er gab den Eltern, die etwas weiter entfernt saßen, einen Daumen hoch. Alle lachten, das Kind lief weiter, hinter den Großen her.
Unser Kellner kam und lieferte tiefroten Wein, in dem die Kerzenlichter schimmerten. Es duftete nach Meer, nach Rosmarin und ein bisschen nach großem Hund. Wir prosteten uns zu und versanken ganz in unserem Gespräch, wie verliebte Menschen an ihrem ersten Urlaubstag das eben so tun. Die Laute der tobenden Kinder, das Lachen an den Nebentischen – Kulisse, sonst nichts. Eine Kulisse, die man nicht wirklich wahrnimmt, die aber besonders nach der einsamen Coronazeit murmelt, es ist alles in Ordnung. Du bist ein Mensch unter Menschen.
Am nächsten Morgen vor dem Frühstück las ich wie jeden Tag Nachrichten. Auch aus Deutschland. Die üblichen Katastrophen. Dann, eine kleine Meldung am Rand. Mein Bauch zog sich zusammen. Wie so oft in der letzten Zeit fiel mir Heine ein. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Warum? Die Rede war von einem Café, zu dem nun keine Kinder mehr Zutritt hatten. Die Wirtin empörte sich über Eltern, die ihren Kindern keine Grenzen setzten, die sie einfach herumlaufen ließen auf den Gängen, die, ja, man stelle sich vor, sogar laut redeten. Oder, und das war nun die Härte, tatsächlich Menschen vom Nebentisch in ein Gespräch verwickeln wollten.
Unter dem Artikel war ein Link zu einem bekannten Sozialen Netzwerk. Die Kommentarspalten können ja allgemein als schlechte Unterhaltung durchgehen, aber was sich hier fand … Da war die Rede von „Unerzogenen Rotzlöffeln“. Von „Ich will meine Ruhe haben“. Von „Wenn ich mein hart verdientes Geld in ein Restaurant trage, will ich nicht von den Kindern anderer Leute genervt werden.“ Kinder anderer Leute?
Ich suchte vergeblich nach einem Kommentar, der diesem Irrsinn Einhalt gebot. Ein schüchterner Post sagte etwas wie „Aber Eltern von Kindern haben doch auch das Recht auf einen schönen Abend im Restaurant“. Hui, da hatte sich aber jemand weit aus dem Fenster gelehnt. Sogleich kam der Entrüstungssturm der Ruheliebenden.
Ich ließ das Handy sinken, auf dem ich die Nachrichten las. Sah aus dem Fenster. Es war einen Spalt breit geöffnet, Kinderlachen drang von draußen herein. Die Gedanken wurden schwer. Was ist los mit uns Deutschen? Warum so verklemmt? Warum nicht zusammen genießen? Wie eine Gesellschaft mit ihren Kindern umgeht, ist ein Spiegelbild ihrer Werte. „Zutritt nur für Erwachsene“ an einem Café am Ostseestrand macht mich unendlich traurig. In einer Gesellschaft, die sich Zukunft wünscht, gibt es keine Kinder anderer Leute. Es sind unsere Kinder. Alle miteinander, die lauten und die leisen, die dicken, die dünnen, alle.
Anne Gerdsen